von Valerie Lux
Als ich André im Hafven Cafvé begrüße, lächelt er mich an und steht auf. Er hat kurze graue Haare, einen Stoppelbart und graugrüne Augen. Ich lege Zettel und Stift bereit und möchte mit dem Interview anfangen. “Stopp”, sagt André, “Ich möchte dich erst mit einer gleichberechtigten Umarmung begrüßen”. Ich stehe wieder von meinem Stuhl auf und wir umarmen uns, so wie man sich normalerweise umarmt, die Armen auf gleicher Höhe. Wir drücken wir eine halbe Minute unsere Körper aneinander. Um uns herum geht das Cafétreiben weiter. Eigentlich paradox, denke ich, wir umarmen den ganzen Tag über Menschen zur Begrüßung oder zum Abschied – aber nicht länger als zwei Sekunden. Das ich reglos mit jemanden in einer Umarmung für mehrere Momente verharren, fühlt sich an, wie eine neuartige intime Erfindung für den öffentlichen Raum. Es fühlt sich sehr ungewohnt, ich weiß nicht, ob ich eine längere Umarmung mit einem Fremden jetzt als angenehm oder distanzlos einordnen soll. „Nach zwanzig Sekunden entspannt sich der Körper“, erklärt André, “und eine Vertiefung des Atmens setzt ein”. Es geht jetzt weiter, mit der “Mutter-Kind-Umarmung”. Also nochmal: seine Arme auf meine Schultern, meine Arme um seine Bauch. Es fühlt sich für mich an, als würde ich mich um einen starken Baumstamm klammern. Zwar beschützt, aber auch sehr klein fühle ich mich. Wir setzen uns wieder. “Ich habe jedoch gemerkt, dass diese zwanzig Sekunden für viele Menschen ein unüberwindbares Hindernis darstellen. Eine längere Umarmung mit einem Fremden, ohne das sexuelle Interessen im Spiel sind, scheint für viele das Extremste zu sein, was sie je in ihrem Leben getan haben", resümiert André zu Beginn.
Wie kommt jemand dazu, hauptberuflich Menschen umarmen zu wollen? Vor zwei Jahren, erzählt André, habe er seinen Beruf als selbstständiger Tischlermeister an den Nagel gehängt. Er hatte keine Lust mehr jeden Tag auf den Boden zu robben und Laminat zu verlegen, sein Rücken machte nicht mehr mit. Also verkaufte er seine Maschinen. Er lebte von Ersparnissen, reiste ein Jahr lang herum, erledigte in Bayern, Irland und Mallorca Auftragsarbeiten und kümmerte sich um seine Eltern. Irgendwann besuchte er ein Seminar zur Familienaufstellung. Die Psychologin achtete darauf, dass sich alle zu Beginn einmal fest umarmten. “Ich dachte mir nur: Mensch, ist das schön”, erinnert sich André. Dabei bemerkte er, dass sich die Stimmung auch bei den anderen Teilnehmer änderte. Durch die gegenseitigen Umarmungen wurden sie gelöster, gingen offener miteinander um, beobachtete André. “Ich denke, durch eine Umarmung spüren wir, dass wir alle Eins sind. Wir erleben die Erfahrung, dass wir alle miteinander verbunden sind.”
Das Seminar war der Startschuss für ihn, sich Gedanken zu machen, warum er so selten andere Menschen umarme. “Es zuzulassen, dass der fremde Mensch mich spürt, ist anscheinend für viele Menschen eine enorme Überwindung.” Denn die Aufgabe einer Umarmung sei es, die Barriere der Distanz zwischen Menschen einzureißen, “diese Schutzmauer errichten wir aus Angst vor Anderen um uns herum”. Warum also nicht Menschen animieren, diese Abwehrmauer abzubauen, dachte sich André. Er fing an, öfter und länger Freunde und Bekannte aus seiner Umgebung zu umarmen. Er stellte fest, dass je länger er sie umarmte, er mit der Person umso offener und vertrauensvoller danach kommunizieren konnte. Außerdem hat André prominente Fürstreiter im Rücken. „Der Dalai Lama sagt, dass man sogar sechzehn Mal am Tag jemanden umarmen sollte”.
Er gab er sich irgendwann einen Ruck und weitete das Angebot seiner Umarmung auch auf die Menschen aus, die er noch nicht kannte. Wenn sich im Alltag ein Gespräch mit einem Unbekannten ergab, bot er ihnen nach einiger Zeit eine Umarmung an. “Die meisten Leute waren sehr überrascht. Viele haben sich gefreut und die Umarmung angenommen.” Bei einem Spaziergang traf André zum Beispiel auf einen Mann, der auf der Bank saß und Elektrogitarre spielte. Die beiden kamen ins Gespräch, André lud ihn zu einer Umarmung ein. Der Gitarrist sagte, dass dies das erste Mal nach Jahren sei, dass er wieder von jemanden umarmt wurde. Andere reagierten wiederum entsetzt - “doch nicht hier in der Öffentlichkeit”, sagte ein anderer Passant.
André bemerkte, dass er in seinem vorherigen Leben noch nie andere Männer wirklich in den Arm genommen hatte. “Unser Geschlecht ist es es gewohnt, sich gegenseitig zu bekämpfen, viele Männer stehen auf der ganzen Welt sich in waffenstarrenden Armeen gegenüber.” Eine Umarmung mit einem Mann sei deswegen viel intensiver für ihn, als mit einer Frau, “der Aspekt der Konkurrenz fällt weg.” Im öffentlichen Raum, fiel ihm auf, sähe man viel mehr einsame Männer als Frauen. Sie säßen alleine in der Bar oder auf Parkbänken. “Männer tragen mehr das Gefühl der Einsamkeit in sich”.
Du umarmst einfach jeden, der sich dir in den Weg stellt? “Ganz so ist es nicht”, sagt André,“mir ist es wichtig, dass sich die Menschen nicht überfallen fühlen. Ich frage immer nach, ob jemand umarmt werden möchte. Ich möchte keine Grenze übertreten.” Für ihn hat eine Umarmungen auch nichts mit Sexualität zu tun, das seien zwei völlig unterschiedliche Paar Schuhe. “Denn wie traurig wäre es denn, wenn wir nur die Menschen umarmen würden, die wir sexuell attraktiv finden? Das halte ich für eine nicht hinnehmbare Diskriminierung“.
André bemerkte jedoch, dass das Angebot von längeren Umarmung auch immer wieder auf Misstrauen stieß. “Die Menschen sind es einfach nicht gewohnt, Berührungen zuzulassen ohne dass sexuelles Interesse im Spiel ist. Bass erstaunt war ich, dass einige weibliche Bekannte sagten, es sei für sie leichter sei, die Intimität eines One-Night-Stand zuzulassen, als eine längere Umarmung mit einem Fremden.”
Doch die positiven Erfahrungen überwogen. Irgendwann wachte André eines Morgens auf und überlegte sich: Wie schön wäre es, wenn ich wirklich effektiv helfen könnte. “Mein Traum war es, freiwillig einen Vollzeit-Job als Umarmer zu machen. Jeder erzählte mir, ich sollte doch einfach ein Schild malen und ‘Free Hugs’ anbieten. Aber ich wollte nicht einer werden, der ad hoc jeden Tag mit einem Pappschild durch die Fußgängerzone läuft”, erzählt er. “Nein, ich wollte liebsten ein ordentliches Büro in der Innenstadt. besitzen. Eine Art Telefonhäuschen in der Fußgängerzone, außen hängt ein Schild „Kostenlose Umarmungen“. Er grinst. „Ja, ich weiß, das klingt abgefahren. Aber ich musste einfach mal auch Spinnerei zulassen.”
Die Idee zum Büro verwarf er wieder, andere Optionen erschienen ihm machbarer. Sollte er sich vielleicht mit seinem Angebot an ein Altenheim wenden? Dort wären viele einsame Menschen, die vielleicht eine Umarmung bräuchten. Oder könnte er seine Dienste auf Hochzeiten anbieten? Dort würde ein Fotograf, ein DJ und Caterer bestellt, warum also nicht auch ein Umarmer? Würde man vielleicht einen Umarmer auch bei Beerdigungen brauchen? Er könnte vor der Kapelle stehen und Menschen umarmen, die in den Trauergottesdienst gehen.
Er sicherte sich die Domain „umarmer.de”, buchte sich einen Platz im Hafven, veröffentlichte auf seiner Webseite eine Anleitung zum Umarmen. ( http://www.umarmer.de/ hier ist auch ein Video zu finden, wo André andere Menschen umarmt) Dann ließ er Sticker mit dem Namen “Der Umarmer” herstellen und klebte sie auf sein Auto. Schlussendlich gründete er die “Umarmungsstiftung”, eine monatlicher Veranstaltungsreihe, an deren Terminen sich Interessierte zum Umarmen treffen (https://www.meetup.com/de-DE/Umarmungsstiftung-und-Begegnung/).
Über die Monate trugen sich über 170 Interessierte in der Meet-Up-Gruppe “Umarmungsstiftung” ein, alles Menschen die er noch nicht kannte. Das erste Umarmungstreffen fand bei ihm Zuhause im Januar 2017 statt. Es wurde geredet und gelacht, zwischendurch stand man auf und umarmte sich. Eine Frau, die in depressiver Verstimmung kam, blühte nach den Umarmungssessions regelrecht auf. Danach gab noch mehrere Treffen. Doch ihm fiel auf, dass seine Einladung zum unverbindlichen Körperkontakt auch Menschen anzog, die durch ihre psychische Labilität sehr anhänglich wurden. „Da bin ich dann irgendwann nicht mehr ans Telefon gegangen – besoffene Frauen, die mir ihren Liebeskummer vorheulten“. Ein Mann, der es nicht wagte, ihm beim Gespräch in die Augen zu sehen, aber dann herzzereissende Emails schrieb. „Manchmal war es zuviel Seelenstreaptease – ich glaube, ich habe durch die Berührungen bei den Menschen oft zu viel ausgelöst und musste danach unfreiwillig Therapeut spielen“. Menschen, von denen er spürte, dass sie niemals Umarmungen zu lassen würden, sei die Kriegsgeneration. „Senioren im Alter von 80 bis 90 Jahren. Die sind innen drin so versteinert, dass ich schon von weitem merke: Die darf ich auf keinen Fall umarmen.“
Ein Jahr lang veranstaltete er Umarmungstreffen. Doch trotz der vielen digitalen Interessenten, blieb die Anzahl der Teilnehmer auf den Treffen gleichbleibend gering. Ihn macht das traurig. Als er dann bei mehreren Terminen hintereinander alleine blieb, beschloss er, dass es für ihn genug sei, “Ich kann mich ja nicht selbst umarmen.” Er löschte seinen Email-Newsletter, kündigte das Abo der Meet-Up-Gruppe. Gleichzeitig ist er auch erleichtert. “Es gibt einfach zu viele Missverständnisse, wenn man Umarmungen anbietet. DIe fallen jetzt weg. Und doch ist er enttäuscht. “Ich wollte etwas schenken und mein Geschenk wurde nicht angenommen.”
Wer mehr über die Erfahrungen von André wissen möchte, er arbeitet tagsüber als Produktentwickler im Silent Space im Hafven.
Dieser Blogbeitrag wurde von der freien Journalistin und Hafven-Mitglied Valerie Lux verfasst. Sie freut sich darauf, auch für andere Start-Ups Texte zu kreieren.
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Email ǀ valerielux@posteo.de
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